Europa und Palästina

Zwischen 1933 und 1941 gab es unterschiedliche Schwerpunkte in der jüdischen Emigration. Die Aufnahmeländer konnten nur selten frei gewählt werden, häufig beeinflussten komplizierte Immigrationsgesetze die Entscheidung.

Anfangs gab es zwei Hauptrichtungen, in die auch die jüdischen Verfolgten aus der südniedersächsischen Region ausreisten: 1. in die westlichen Nachbarstaaten des deutschen Reiches, und 2. in das unter britischem Mandat stehende Palästina. Infolge der NS-Boykottaktion vom 01. April 1933 gegen jüdische Geschäftsleute sowie des Ausschlusses jüdischer Beamter aus dem Staatsdienst, der Einschränkung der Berufspraxis für Rechtsanwälte und Ärzte und des Ausbildungsstopps für jüdische Studierend flohen die meisten dieser Ausgegrenzten zunächst nach Frankreich, Holland, England oder Belgien.

Da die Aufnahmebestimmungen dieser Länder nicht einheitlich waren und auch unterschiedlich repressiv ausgelegt wurden, gab es von Beginn an eine „illegale" Fluchtbewegung in die Nachbarstaaten des Deutschen Reiches. Arbeitsverbote, meist mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise begründet, verstärkten die Verunsicherung. Einige Länder, wie Großbritannien, nahmen im Laufe der Zeit nur noch bestimmte Berufsgruppen auf, so z.B. landwirtschaftlich Tätige und Hausangestellte. Verfolgte, die eine Umschulung im Agrar- oder Handwerksbereich absolviert hatten, konnten auch leichter an Visa für Palästina gelangen. So konzentrierten sich jüdische Hilfsorganisationen in Deutschland und den Nachbarstaaten mit der Zeit darauf, die jüngeren Kandidaten in spezifischen Einrichtungen für die „Berufsumschichtung" (Hachschara) auszubilden.

 
Europäische Nachbarländer 

Es ist schwierig, konkrete Zahlen zu den seit 1933 Geflüchteten zu ermitteln. Das Problem besteht vor allem darin, dass anfangs viele Verfolgte auf eigene Initiative emigrierten. Erfasst werden konnten aber nur diejenigen, die über die jüdischen Gemeinden bei der Reichsvertretung der Juden in Deutschland (RVJD) registriert waren oder von Hilfsorganisationen betreut wurden. Allein für 1933 schätzte die RVJD 36.000 nach Westeuropa Ausgewanderte. Etwa 14.000 von ihnen nutzten die Nachbarstaaten als Transitland, um endgültig nach Palästina oder Übersee zu emigrieren.Etwa 6.000 dieser Geflüchteten wurden vom Hilfsverein der deutschen Juden unterstützt. Im Laufe des Jahres nahm die Zahl der Menschen, die in den europäischen Nachbarländern Zuflucht suchten, aber wieder um ca. zwei Drittel ab.2

 
Niederlande und Belgien

Viele der jüdischen Verfolgten aus Göttingen und Umgebung flohen zunächst in die Niederlande und nach Belgien. Das lag häufig an familiären Verbindungen, aber auch an den zunächst relativ liberalen Einwanderungsbestimmungen. Drei Aspekte prägten die Flucht in die westlichen Nachbarländer. Für die meisten Geflüchteten waren sie nur Durchgangsstation nach Übersee oder Palästina, für fast ebenso viele eine Falle, die nach dem deutschen Einmarsch im Mai 1940 mit der Deportation in die Vernichtungslager endete. Einige aber überlebten die Besatzungszeit mit Hilfe der Bevölkerung in der „Illegalität".

Nur wenige Geflüchtete überlebten in Holland und Belgien

Die Niederlande und Belgien wurden von denenjenigen als erstes Zufluchtsland gewählt, die das Deutsche Reich aus Verfolgungsgründen schnell verlassen mussten, die Weiterreise in ein anderes Land aber schon geplant oder organisiert hatten. Das traf auch auf die Familie Katzenstein/Schwalm aus Dransfeld zu. Adolf Katzenstein kam nach seiner Hochzeit mit Alice Schwalm, Tochter des Lehrers Levi Schwalm, 1925 aus Westfalen in die südniedersächsische Kleinstadt. Wenige Jahre später übernahm der Kaufmann den rentablen Getreidehandel des Ortsbeirats und Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, Jacob Isenberg. Er führte das Geschäft bis 1937, dann war gegen den Boykott kein Umsatz mehr zu machen. Da längst der Entschluss zur Auswanderung gefallen war, zog die Familie, bestehend aus Adolf und Alice Katzenstein, den Kindern Eva und Fritz sowie Levi und Meta Schwalm 1937 nach Hamburg. Näher am amerikanischen Konsulat erhoffte man sich größere Chancen bei der Visaerteilung.

Über Rotterdam 1939 nach New York

Was in der Hansestadt nicht gelang, glückte schließlich in den Niederlanden. Der Grund für den kurzfristigen Umzug von Hamburg nach Rotterdam im Jahr 1938 ist nicht bekannt, dort aber stellte das Konsulat der Vereinigten Staaten Adolf Katzenstein und seiner Familie am 13. Oktober 1938 die Quotenvisa mit den Nummern 25.950 bis 25.953 der pro Jahr für deutsche Immigranten zur Verfügung gestellten 27.340 Einwanderungsgenehmigungen aus. Das Ehepaar Schwalm erhielt die Zertifikate erst ein Jahr später, Ende September 1939. Anfang Februar 1939 reiste Familie Katzenstein mit dem Dampfer Zaandam3 von Rotterdam nach New York, die Eltern Alice Katzensteins folgten im Oktober 1939 vom belgischen Antwerpen aus. Insgesamt machten 30.000-35.000 jüdische Geflüchtete4 davon Gebrauch, dass die Niederlande 1926 die Visumpflicht abgeschafft hatten und bis 1938 eine fast problemlose Einreise möglich war.

Viele, die nach dem Aufnahmestopp von Anfang 1938 – erst nach dem Pogrom im November des Jahres ermöglichte die Regierung wieder 7.000 jüdischen Verfolgten die Einreise – ins Land kamen, hatten nur eine Transitgenehmigung erhalten. Da sich ihr Aufenthalt aus bürokratischen Gründen häufig in die Länge zog, mussten sie Unterkunft und Verpflegung von den wenigen finanziellen Mitteln bezahlen, die sie aus Deutschland mitnehmen durften. So waren sie, wie Katzensteins und Schwalms, auf die Unterstützung durch Verwandte aus den USA oder durch Hilfsorganisationen angewiesen. Das Schicksal der Familie Katzenstein/Schwalm wird auf der Seite „Aufnahmeland USA" nochmals thematisiert, auch die Niederlande rücken bei dem Thema „Illegalität" erneut ins Blickfeld.

Hachschara in Belgien

Schon 1933 flüchtete Gerda Meyerstein aus Bremke nach Belgien. Die kleine Ortschaft in der Nähe Göttingens hatte einen traditionell hohen jüdischen Bevölkerungsanteil. Wenige Monate nach der NS-Machtübernahme lebten aber nur noch Teile der großen Familie Meyerstein und eine weitere jüdische Familie im Dorf. Gerda Meyersteins Vater Hermann war Schlachter und besaß eine kleines Geschäft im Ort sowie einen Marktstand in Göttingen. Seine Tochter half im Geschäft mit aus. Die Familie war sofort nach dem 30. Januar 1933 antisemitischer Hetze ausgesetzt. Sowohl Hermann, als auch Gerda Meyerstein, waren Mitglieder der SPD und wurden durch einen SA-Mann drangsaliert, der im selben Mietshaus wohnte. Die Partei nutze die Auseinandersetzungen im Haus für verfälschte Darstellungen in der regionalen Presse.

Im September verhaftete die Gestapo Gerda Meyerstein auf Veranlassung des SA-Mannes. Man drohte ihr mit weiterer Haft, wenn sie das Deutsche Reich nicht sofort verließe.5 Am 31. Oktober 1933 flüchtete die junge Frau nach Belgien, um ihre Weiterreise nach Palästina zu organisieren. Da sie nicht über die finanziellen Mittel verfügte, um ein "Kapitalistenvisum" zu erhalten, durch das die sofortige Einreise nach Palästina möglich gewesen wäre, musste sie bis 1936 in Belgien ausharren. Sie nutzte die Zeit für eine Umschulung, schließlich gelangte sie mit einem Chaluzimtransport6 nach Palästina. Gerda Meyerstein heiratete 1938 Salomon Rosenfeld, 1947 emigrierte das Ehepaar nach New York, wo sich beide im Stadtteil Washington Heights niederließen.

 
Frankreich

In Frankreich suchten im Lauf der 1930er Jahre bis zu 100.000 deutschsprachige Verfolgte Asyl. Die meisten von ihnen waren jüdische Geflüchtete.7 Das Land hatte zunächst ebenfalls eine liberale Aufnahmepraxis, setzte angesichts einer prekären Arbeitsmarktlage aber zunehmend auf Restriktionen, angeblich auch, um der gestiegenen antisemitischen Stimmung entgegen zu wirken. So lag der Anteil der „illegal" Geflüchteten hier höher, als in den Benelux-Ländern. Das größte Problem der Eingereisten bestand darin, dass sie als Ausländer keine Arbeitserlaubnis bekamen. Ohne Arbeit wiederum erhielten sie nur einen geduldeten Aufenthaltsstatus. Ihre Abschiebung in das Deutsche Reich war demnach jederzeit möglich. Es war also von einigem Vorteil, Bekannte im Land zu haben, die Unterstützung leisten oder sich für eine "legale" Beschäftigung einsetzen konnten.

Nach der Besetzung Frankreichs durch die Wehrmacht flüchteten die Verfolgten in die Freie Zone

Gertrud Faibuschewitz aus Göttingen und Walter Meyer aus Hann. Münden flüchteten schon 1933 nach Frankreich. Gertrud Faibuschewitz hatte auf der Personn-Realschule in Göttingen ihren Abschluss gemacht und anschließend bei der Fa. Max Jacobson eine Ausbildung zur Fachverkäuferin im Textilgewerbe abgeschlossen. Ab 1931 arbeitete sie als Verkäuferin im Kaufhaus Richter in der Groner Straße in Göttingen. Nach der Übernahme durch die Rudolf Karstadt AG stellte man ihr auf Grund der Fachausbildung eine Beförderung zur Abteilungsleiterin in Aussicht, der Regierungswechsel am 30. Januar 1933 verbaute ihr aber diese Perspektive. Nur wenige Wochen später musste die Firma sie nach einer Intervention der NS-Betriebszellenorganisation sogar entlassen.

Nach ihrer Flucht nach Paris im Sommer 1933 war die junge Frau wegen des Einstellungsverbots darauf angewiesen, als Haushaltshilfe gegen Kost und Logis zu arbeiten. Sie lebte die Jahre bis zum Frühjahr 1940 im 19. Arrondissement, im alten Arbeiterstadtteil Belleville. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Paris war ihr bewusst, dass sie die französische Hauptsstadt sofort verlassen musste. Wie hunderttausende Franzosen und Exilanten flüchtete sie vor den heranrückenden deutschen Truppen in Richtung Süden.8 Ihr Ziel war die spanische Grenze, ihr Problem, dass sie keinen französischen Pass besaß. So konnte sie jederzeit von französischer Polizei aufgegriffen und an die Gestapo übergeben werden. Offizielle Transportmöglichkeiten, z.B. mit dem Zug, waren also ausgeschlossen.

Zu Fuß von Paris bis zur spanischen Grenze

So legte Gertrud Faibuschewitz den langen Weg zu Fuß zurück, bat auf abgelegenen Gehöften um Unterkunft für die Nacht und etwas Verpflegung und hoffte, nicht verraten zu werden. Oft genug musste sie "auf Feldern, in Scheunen, Wäldern versteckt übernachten".9 Auf Grund der Denunziationsgefahr galt es, schnell die Orte zu wechseln. Die Übernachtungen im Freien hatten Krankheiten und permanenten Hunger zur Folge. Dennoch schaffte es Gertrud Faibuschewitz, Südfrankreich zu erreichen. Zunächst konnte sie sich im Departement Perpignan, nahe der französisch-katalanischen Grenze, versteckt halten. Beim Versuch des Grenzübertritts oder bei einer der zahlreiche Razzien wurde sie aber entdeckt und verhaftet. Beamte des Vichy-Regimes, später auch die deutschen Besatzer, die Ende 1943 die bis dahin unbesetzte Zone okkupiert hatten, internierten sie in den Lagern Rivesaltes und Bacares. Schließlich befreiten alliierte Truppen sie 1944 im Arbeitslager Ille-sur-la Tete in den Pyrenäen.

Walter Meyer leitete in Paris eine Firma

Etwas anders stellt sich das Beispiel von Walter Meyer aus Hann. Münden dar. Als Sohn des Unternehmers Benno Meyer, der gemeinsam mit seinen Brüdern Isaak und Feodor sowie dem Geschäftsmann August Wandmacher um 1890 die Fa. Awuko Schmirgelwerke gegründet hatte, sollte er Ende der 1920er Jahre die Firmenanteile des Vaters übernehmen und die Exportabteilung des international tätigen Unternehmens leiten. Da die notwendigen Reisen im Reichsgebiet nach dem 30. Januar 1933 für einen jüdischen Unternehmer de facto unmöglich wurden, betraute man ihn mit der Firmenvertretung für Westeuropa in Paris. So kam Walter Meyer noch im Laufe des Jahres 1933 in die französische Hauptstadt. Hier leitete er bis 1937 die Niederlassung der Firma. Dann flüchteten die drei jüdischen Firmeninhaber aus Hann. Münden, da ihnen die Verhaftung wegen angeblicher Steuerrückstände drohte, in die Niederlande. Walter Meyer konnte die Pariser Niederlassung noch eine kurze Zeit lang weiter führen, da die Familie sich gegen die Enteignung der Firmenzentrale in Hann. Münden zur Wehr gesetzt und ihre internationalen Kontakte genutzt hatte. Spätestens mit Kriegsausbruch im Westen wurde die Lage aber auch für Walter Meyer prekär. Obwohl er über finanzielle Mittel verfügte, auch die Eltern sich mit eigenen Reserven bereits in Sicherheit gebracht hatten, war es für Walter Meyer und seine Ehefrau Else nur mit Unterstützung der jüdischen Hilfsorganisationen in Lissabon möglich, Europa zu verlassen.10 Zuvor war der Geschäftsmann direkt nach Kriegsbeginn im September 1939 von den französischen Behörden interniert worden. Als deutscher Staatsbürger wurde er als "feindlich" eingestuft. Ein Status als im Deutschen Reich Verfolgter existierte demnach nicht. Diese Erfahrung machte auch Leopold Rosenthal aus Göttingen.

Nach Kriegsausbruch als "feindliche Ausländer" interniert

Der Getreidehändler war, ebenfalls schon 1933, mit seiner Familie zu den Eltern seiner französischen Ehefrau ins Elsass geflohen. Nun fand er sich plötzlich in einem zentralfranzösischen Internierungslager wieder. Leopold Rosenthal kehrte nach seiner Freilassung nur kurz zu seiner Familie zurück. Im Mai 1942 flüchtete er wieder Richtung Süden in die "Freie Zone", um sich dort versteckt zu halten. Im Departement Haute Loire wurde er von vielen Helfern unterstützt, die in diversen kirchlichen und säkularen Gruppen organisiert waren.11 So schaffte es Leopold Rosenthal, trotz kurzzeitiger Inhaftierung wegen eines versuchten illegalen Grenzübertritts in die Schweiz, der Deportation in die deutschen Vernichtungslager Osteuropas zu entgehen. Walter Meyer hingegen blieb auch im "freien" Teil Frankreichs interniert. Um ihn kümmerte sich die HIAS, besorgte Transitvisa für mehrere Länder und finanzielle Mittel für die Passagen. Erst im November 1941 gelang es dem Ehepaar Meyer, Frankreich in Richtung Lissabon zu verlassen. Von dort emigrierten sie über Kuba in die USA.12

 
Großbritannien

Auf die britischen Inseln flüchteten nach 1933 zahlreiche Jüdinnen und Juden aus Südniedersachsen. In den veröffentlichten Statistiken gehörte das Königreich bis zum Kriegsausbruch zu den begehrtesten Aufnahmeländern. Auch wenn die englische Regierung die Einwanderungsbestimmungen infolge der verstärkten Zuwanderung seit Beginn der NS-Herrschaft  sukzessive verschärfte, gab es bis 1939 immer wieder Sonderprogramme für jüdische Immigranten. Bekannt geworden sind die "Kindertransporte" nach dem Novemberpogrom 1938, es gab aber auch ein Sonderprogramm für jüdische Hausangestellte.  

Programme zur Aufnahme von Geflüchteten

Aus der Region um die Universitätsstadt Göttingen sind bislang ca. 50 jüdische Verfolgte nachgewiesen, die in England, Schottland und Wales Zuflucht suchten. Wie Frankreich war auch Großbritannien für die meisten Geflüchteten nur Durchreiseland, sie emigrierten weiter in die USA, nach Südamerika oder Südafrika. Viele konnten aber nach Kriegsausbruch ihre Weiterreise aus Sicherheitsgründen nicht antreten. Auch Alfred Feist, der zeitweise in Hann. Münden gelebt hatte, musste sich bis Kriegsende gedulden.

Wer frühzeitig in England ankam, hatte aber die Chance, Arbeit zu finden und sich in die britische Gesellschaft einzuleben. Da neben Hausangestellten auch landwirtschaftliche Arbeiter und Arbeiterinnen gesucht wurden, gab es für die jugendlichen Absolventen der Umschulungsbetriebe im Deutschen Reich eine weitere Perspektive neben den Siedlungsprogrammen für Palästina und Südamerika. Einer von ihnen war Hermann Meyerstein aus Bremke, ein Neffe des gleichnamigen Schlachters Hermann Meyerstein.13 Da sein Berufswunsch "Bautechniker" in der NS-Zeit nicht zu realisieren war, stand sein Entschluss zur Emigration schon früh fest. Mitte der 1930er Jahre waren die Voraussetzungen zur Auswanderung allerdings ungünstig. Die englische Regierung hatte eine strikte Zertifikatsregelung für Palästina erlassen, die amerikanische Quote wurde zunehmend mit einschränkenden Bedingungen versehen und Südamerika sowie Südafrika standen nicht im Fokus des Auswanderungswilligen.

1940 in England interniert

Um bessere Aussichten auf ein Einwanderungszertifikat zu haben, absolvierte der junge Mann schließlich eine landwirtschaftliche Ausbildung auf dem Bremke benachbarten Obergut Appenrode. Als er im Frühjahr 1938 sein Zeugnis erhielt, hatten sich die Lebensbedingungen im Reich für Jüdinnen und Juden schon erheblich verschlechtert. Jobs waren kaum zu bekommen und wenn, waren sie häufig mit Diskriminierung verbunden. Bis zum Pogrom im November 1938 arbeitete Hermann Meyerstein in einer Göttinger Baufirma beim Autobahnbau. Obwohl er einen Leistenbruch erlitten hatte, sperrte man ihn in der Pogromnacht in das Göttinger Gerichtsgefängnis. Kurz nach der  Entlassung traf sein beantragtes Einwanderungszertifikat für England ein. Am 25. Juni 1939 verließ Hermann Meyerstein Deutschland mit dem Schiff in Richtung Großbritannien.

Sein erster Job als landwirtschaftlicher Arbeiter führte ihn nach North Yorkshire auf die Hall Farm bei Harrington. Lange hatte die Farmerfamilie aber keine Freude an ihrem fleißigen Mitarbeiter, 1940 internierte auch England fast alle Geflüchteten aus dem Deutschen Reich als enemy aliens. Im Dezember 1941 wurde Hermann Meyerstein freigelassen, danach arbeitete er wieder in der Landwirtschaft. In Leistershire ließ er sich schließlich nieder, heiratete und gründete eine Familie.14 Andere, wie Edith Feist aus Hann. Münden, fanden Arbeit als Angestellte im produzierenden Gewerbe, gründeten Firmen, wie Alfred Meyer, ebenfalls aus Hann. Münden, oder traten der British Army bei, wie Moritz S. aus Dransfeld, der als 13-Jähriger 1940 mit einem "Kindertransport" nach England gekommen war. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Anfang September 1939 kam die Zuwanderung auf die britischen Inseln zum Erliegen.

Internierte kamen erst nach einem Jahr frei

Nachdem die deutsche Wehrmacht 1940 in ihre westeuropäischen Nachbarstaaten eingefallen war, sah man in England aus Angst vor Spionage keine Alternative zur Internierung der Geflüchteten aus dem Deutschen Reich. Direkt nach Kriegsausbruch im Herbst 1939 waren fast alle im Land befindlichen deutschen Jüdinnen und Juden noch von der Internierung zurückgestellt worden. Nun mussten sie sich in verschiedene Lager einweisen lassen, die über das ganze Königreich und die überseeischen Niederlassungen des Commonwealth verstreut lagen. Alfred Dannenberg aus Dransfeld hatte sich im Kitchener Camp in der Grafschaft Kent zu melden, einem Internierungslager für Geflüchtete, die bereits ein Visum zur Einreise in ein Drittland vorweisen konnten. Dannenbergs besaßen Einreisezertifikate für die USA, die Kriegssituation auf dem Atlantik verhinderte aber die zügige Weiterreise. Nach seiner Entlassung aus dem Camp fand der Kaufmann zunächst keine Arbeit.

Für den Lebensunterhalt der Familie sorgten Tochter Hildegard, die als Haushaltshilfe arbeitete, und Schwiegersohn Leopold Katz, der mit einer weiteren Tochter Alfred Dannenbergs verheiratet war. Das Ehepaar hatte sich nach New York retten können und unterstütze die Familienangehörigen in England über eine Hilfsorganisation. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnten Dannenbergs in die USA ausreisen. Dieses Schicksal teilten sie mit zahlreichen jüdischen Geflüchteten in Großbritannien, u.a. mit dem Ehepaar Feist. Tochter Hildegard Dannenberg hingegen blieb in England, heiratete und kehrte später einige Male zu Besuch in ihre Heimatstadt Dransfeld zurück.

 
Weitere europäische Aufnahmeländer

Neben den aufgeführten westeuropäischen Ländern flüchteten jüdische Verfolgte aus Südniedersachsen auch nach Osteuropa. Einige von ihnen besaßen z.B. noch die polnische Staatsangehörigkeit, anderen war die deutsche wegen ihres Status als "Ostjuden" wieder entzogen worden. Familie Sommerfeld-Böhm aus Hann. Münden suchte vergeblich Schutz in Tschechien, lediglich Tochter Alice schaffte es, der deutschen Vernichtungsmaschinerie nach Palästina zu entkommen. Hildegard Meininger aus Göttingen hatte den bulgarischen Zahnarzt Dr. Robert Garti geheiratet, der in Göttingen studiert hatte. Ende 1935 zog das Ehepaar nach Bulgarien, wurde dort während des Zweiten Weltkriegs interniert und, wie fast alle jüdischen Internierten, durch die Bemühungen bulgarischer Politiker und Kirchenvertreter vor der Deportation bewahrt.15 Nach dem Krieg wanderte Familie Garti nach Israel aus.

Dozenten und Studierende konnten auf die Unterstützung durch Netzwerke hoffen

In Dänemark wiederum schien ein Netzwerk zu wirken, dass vor allem jüdische Studierende und Dozenten der Mathematik und Physik ins Land holte, die im Deutschen Reich auf Grund der antisemitischen Studienbestimmungen vom April 1933 keine Karriereaussichten mehr besaßen. Die Gebrüder Harald und Niels Bohr (Niels Bohr erhielt später den Physik-Nobelpreis) verschafften den Verfolgten Einreispapiere und Anstellungen an der Universität Kopenhagen. Vor allem der Mathematikprofessor Harald Bohr nutzte seine Beziehungen zum Göttinger Mathematischen Institut, um jüdische Wissenschaftler in Sicherheit zu bringen. Einer von ihnen war der Mathematikdozent Werner Fenchel. Er wurde 1943, gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Mathematikerin Käthe Sperling, vom dänischen Widerstand gerettet und nach Schweden gebracht. Nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs kehrte das Ehepaar 1945 nach Dänemark zurück.

 
Palästina

Alle jüdischen Verbände, im Deutschen Reich wie in Palästina, waren sich darüber einig, die Immigration ins "Gelobte Land" maßvoll zu gestalten. Daher sollten pro Jahr nicht mehr als 10.000 bis 15.000 jüdische Einwanderer in Palästina angesiedelt werden. Diese Prämisse setzte eine geplante und "gelenkte" Emigration aus dem Deutschen Reich voraus.

Bis 1935 flüchteten über 30.000 Juden und Jüdinnen aus Deutschland nach Palästina. In diesen Jahren war das britische Mandatsgebiet demnach das Hautaufnahmeland für die jüdischen Geflüchteten.16 Neben dem Verfolgungsdruck im Deutschen Reich, der Arbeit der zionistischen Jugendbewegung und der Fluchthilfeorganisationen, deren Wirken auf den Seiten "Fallbeispiele" und "Fluchtroute Donau" detaillierter dargestellt wird, waren zwei Maßnahmen der britischen Mandatsmacht ausschlaggebend für diese Entwicklung:  zum einen das Zertifizierungs-Programm der Quotenregelung und zum anderen das Haavara-Abkommen mit der Jewish Agency.

Die britische Regierung war sich angesichts der Fluchtbewegung, die unmittelbar nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten eingesetzt hatte, über die Konsequenzen für ihr Mandatsgebiet in Palästina bewusst. Man versuchte die Entwicklung über die Einrichtung eines Zertifikat-Systems zu regulieren. Zwei Zertifikate waren für das Gros der Verfolgten von Bedeutung. Zum einen das sogenannte "Reichen-Zertifikat", zum anderen die Einwanderung von Kindern und Jugendlichen aus dem zionistischen Spektrum, die Chaluzim. Bei der Visa-Erteilung für die Wohlhabenden ging man von einer positiven Auswirkung auf das ökonomische Wachstum in der Region aus. Die Antragsteller und Antragstellerinnen benötigten ein Guthaben von mindestens 1.000 Pfund Sterling, was einem Reichsmark-Wert in mehrfacher Höhe entsprach.

Das Haavara-Abkommen sollte einen Teil des Eigentums retten

Viele jüdische Verfolgte waren zu diesem frühen Zeitpunkt der Flucht noch in der Lage, den geforderten Betrag aufzubringen. Das Problem bestand in dem Unwillen der NS-Administration, Devisen aus dem Land zu lassen. Von Beginn ihrer Regierungszeit an stand die Hitlerregierung vor dem Problem einer eklatanten Devisenschwäche, teils eine Nachwirkung der Weltwirtschaftskrise, teils aber auch durch die Skepsis der internationalen Finanzmärkte gegenüber der Politik des neuen Systems hervorgerufen. So mussten Wege gefunden werden, diese Problemlage zu umgehen. Das Haavara-Abkommen kam durch Kontakte der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (RVJD) mit der Jewish Agency, der inoffiziellen jüdischen Regierung in Palästina, zustande. In den neuen Siedlungen fehlte es an nahezu allem, neben beruflicher Expertise war daher auch jegliches landwirtschaftliches Gerät erwünscht. Das Haavara-Abkommen sah nun vor, dass die Emigrierenden ihre Bankguthaben auf spezielle Sperrkonten einzahlen sollten, von denen in Deutschland produzierte Gerätschaften gekauft und nach Palästina exportiert werden konnten. Vor Ort war den Geflüchteten dann überlassen, ob sie das Material selbst nutzen oder aber verkaufen wollten. Der Deal wurde im Deutschen Reich über das Palästina-Amt, angesiedelt bei der RVJD, abgewickelt. In Palästina kümmerte sich die Jewish Agency um die Durchführung.

Das Deutsche Reich machte mit dem Geschäft den größten Gewinn

Da nicht klar war, ob und wie viel der umgetauschten Güter absetzbar waren, bedeutete der Transfer für die Verfolgten ein Risiko. Das Deutsche Reich hingegen profitierte von dem Geschäft. Man konnte die Exportabsätze erhöhen, umging damit - ausgerechnet in Palästina - internationale Boykottaufrufe gegen das NS-System, hervorgerufen durch die eigene antisemitische Politik, und verschaffte sich die dringend benötigten Devisen. Da 1933 noch eine gewisse Geldsumme - zunächst 10.000 RM, wenig später auf 5.000 RM herabgesetzt - ins Ausland mitgenommen werden durften, gingen viele der Palästinaflüchtlinge auf die Transferbedingungen ein. Sie hofften, auf diese Weise einen Teil ihres Eigentums retten zu können. Anhand einiger Beispiele wurde bereits dargestellt, wie sich zionistische Organisationen und Jugendverbände nach dem 30. Januar 1933 für die Emigration der jüdischen Jugendlichen nach Palästina einsetzten. Die sogenannte Jugendalijah (Alijah: Aufstieg ins "Gelobte Land") wurde - spätestens ab 1935 - auch von der RVJD und internationalen Hilfsorganisationen unterstützend begleitet. Die Hilfsorganisationen hatten dabei das Problem, sich nicht mit den britischen Behörden überwerfen zu dürfen, um die Unterstützung Großbritanniens bei anderen Emigrationsprogrammen nicht zu gefährden. Als Mandatsmacht hatte das Königreich aber kaum Interesse an einem ungeregelten Zuzug junger Jüdinnen und Juden nach Palästina.


Fußnoten

  1. Die Auswanderung der Juden aus Deutschland. Eine Untersuchung des Wanderungsausschusses der Reichsvertretung der deutschen Juden vom 21.07.1936, abgedruckt in: Otto Dov Kulka (Hg.): Deutsches Judentum unter dem Nationalsozialismus, Bd. 1, Dokumente zur Geschichte der Reichsvertretung der deutschen Juden 1933-1939 (unter Mitarbeit von Anne Birkenhauer und Esriel Hildesheimer), Tübingen 1997, S. 291 f.
  2. Vgl. S. Adler-Rudel: Jüdische Selbsthilfe unter dem Naziregime 1933-1939. Im Spiegel der Berichte der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, Tübingen 1974, S. 89.
  3. Die Zaandam, ein Passierdampfer der Holland-Amerika-Linie, wurde 1942 vor der Küste Brasiliens durch Torpedobeschuss eines deutschen U-Boots versenkt. Dabei verloren über 150 Menschen ihr Leben.
  4. Vgl. Heimat und Exil. Emigration der deutschen Juden nach 1933 (hrsg. von der Stiftung Jüdisches Museum Berlin und der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland), Frankfurt am Main 2006, S. 51.
  5. Angaben zu Gerda Rosenfeld, geb. Meyerstein, auf Basis der Dokumente aus der Entschädigungsakte, NLA-HStAH, Nds. 110 W Acc. 14/99 Nr. 131693.
  6. Hechaluz (hebr.): Pionier
  7. Vg. Heimat und Exil, wie Anm. 4, hier: S. 44.
  8. Angaben zur Flucht von Gertrud Durand, geb. Faibuschewitz, auf Basis der Dokumente aus der Entschädigungsakte, NLA-HStAH, Nds. 110 W Acc. 14/99 Nr. 112463.
  9. Eidesstattliche Versicherung von Gertrud Durand vom 21.07.1958, wie Anm. 7, hier: Bl. 77/78.
  10. Zur Arbeit der Hilfsorganisatioenen siehe auch die entsprechende Unterseite.
  11. Vgl. auch die Familiengeschichte "Pohly/Rosenthal" unter der Rubrik "Fallbeispiele". Walter und Else Meyer saßen bis 1945 in Kuba fest, da ihnen die USA die Einreise verweigerten. Erst nach Kriegsende gelang ihnen die Weiterfahrt nach New York.
  12. Siehe auch Unterseite "Fluchtrouten - Iberische Halbinsel".
  13. Siehe auch Unterseite "Aufnahmeländer - Nord- und Mittelamerika".
  14. Angaben zu Hermann Meyerstein auf Basis der Dokumente aus der Entschädigungsakte, NLA-HStAH, Nds. 110 W Acc. 14/99 Nr. 129042.
  15. Die Darstellung der Rettung der bulgarischen jüdischen Bevölkerung bleibt aus Platzgründen der in Arbeit befindlichen Publikation vorbehalten.
  16. Wie Anm. 1, hier: S. 292.

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