Fluchtrouten über die Iberische Halbinsel

Der Weg über die Iberische Halbinsel war für die jüdischen Bürger und Bürgerinnen des Landkreises Göttingen die letzte Chance, das Deutsche Reich zu verlassen. Ihre Reise führte sie mit der Bahn über Frankreich nach Barcelona oder Lissabon, wo sie einige Tage bis zu ihrer Abfahrt nach Übersee verbrachten.

Der Fluchtweg über Spanien und Portugal wurde vor allem nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs genutzt. Ca. 30.000 Transit-Emigranten wählten diesen Weg. Die meisten von ihnen kamen nach der militärischen Niederlage Frankreichs ab Mai 1940. Insgesamt flüchteten während des Krieges etwa 50.000 Menschen über die Iberische Halbinsel.

In Lissabon spitzte sich die Lage ab 1941 erheblich zu. Die hohe Zahl der Geflüchteten und ihre Aufenthaltsdauer führten dazu, dass die Stadt am Tejo auch "Wartesaal Europas" genannt wurde. Portugal hatte anfangs sehr moderate Einreiseregelungen, ab 1941 wurde der Aufenthalt aber auf zunächst 30 Tage begrenzt. Außerdem stellte die Regierung nur noch Transitvisa aus. Wegen des Krieges gab es immer weniger Transportmöglichkeiten für die Gestrandeten, die mit dem Schiff nach Amerika weiterreisen wollten. Offenbar bewirkte dieser „Transportstau" eine Zunahme administrativer Maßnahmen. So wurden die Flüchtlinge z.B. ab 1941 gezwungen, in Gemeinschaftsunterkünften zusammenzuziehen. Immerhin blieb aber eine gewisse Freizügigkeit gewahrt und die Betroffenen wurden nicht interniert. Noch kurz bevor im Oktober 1941 die deutschen Grenzen für jüdische Emigranten geschlossen wurden, gelang es einigen Familien aus dem Landkreis Göttingen über die Iberische Halbinsel zu flüchten – mit Unterstützung von Verwandten und Hilfsorganisationen im Ausland. Die Letzten reisten noch im Juli 1941 mit der Bahn über Frankreich nach Barcelona bzw. Lissabon. Nach wenigen Tagen im Transitland traten sie ihre gebuchten Passagen nach New York an. In allen vorliegenden Fällen hatten zuvor Familienangehörige in den USA beim American Jewish Joint Distribution Committee (JDC) Gelder für die Überfahrt hinterlegt. Nach Verschärfungen der US-Einreisebestimmungen ab Sommer 1941 akzeptierten die Behörden nur noch Bürgschaften von Verwandten für die Gewährung eines der begehrten Visa.

Mehrere Fluchtbeispiele aus der Region

Zufällig emigrierten zwei Familien aus dem Landkreis Göttingen mit demselben Schiff von Barcelona aus nach New York. Am 01. August 1941 legte die Ciudad de Sevilla in der katalanischen Metropole ab. Erst Mitte Juli war Familie Schwalm aus Hann. Mündern dort eingetroffen.2 Moritz Schwalm hatte als Viehhändler gearbeitet. Zur Zeit der Weimarer Republik war die Geschäftslage noch ausgesprochen gut. Das änderte sich mit Beginn der NS-Herrschaft aber schlagartig. Der jüdische Land- und Viehhandel war bei den Nationalsozialisten, die in ländlichen Gebieten eine starke Wählerbasis hatte, ausgesprochen unbeliebt. Daher wurden umgehend Maßnahmen ergriffen, um die jüdischen Händler vom Markt zu drängen.

Moritz Schwalm war infolge des Boykotts spätestens 1937 nicht mehr in der Lage, seinen Beruf auszuüben. Ein Jahr später wollte er bereits sein Wohn- und Geschäftshaus verkaufen, um an Finanzmittel für die geplante Emigration zu gelangen. Er bat einen nichtjüdischen Milchhändler um Vermittlung. Der in Kassel gefundene Käufer zahlte 1939 einen angemessenen Preis für das Hausgrundstück und legte so den Grundstein dafür, dass der jüdische Kaufmann seine Auswanderungspläne noch in Angriff nehmen konnte. In der Pogromnacht im November 1938 wurde Moritz Schwalm von SA-Männern überfallen und verhaftet. Man internierte ihn, wie alle jüdischen Männer Hann. Mündens, im Göttinger Gerichtsgefängnis. Nach seiner Freilassung musste der Mündener Viehhändler auf Betreiben der Finanzbehörden vom Kaufgeld des Hauses die Judenvermögensabgabe (JuVA) in Höhe von 2.500 RM zahlen, wodurch die dringend benötigten Mittel für die Emigration erheblich reduziert wurden.

In die USA geflüchteter Bruder stellte die geforderte Bürgschaft

Obwohl die NS-Mietbestimmungen den Kündigungsschutz für jüdische Mieter aufgehoben hatten und der Kaufvertrag eine Mietklausel bis lediglich Ende 1939 enthielt, gestattete der neue Hausbesitzer der jüdischen Familie, bis zur Emigration im Haus wohnen zu bleiben. Damit setzte er sich der Gefahr aus, ins Visier der Behörden zu geraten. Mit finanzieller Unterstützung seines Bruders Levi Schwalm, bis 1933 Lehrer an der jüdischen Schule in Dransfeld, gelang Moritz Schwalm mit seiner Ehefrau Sara und Sohn Henry Leo schließlich noch 1941 die Flucht in die USA. Levi Schwalm war mit seiner Familie schon im Oktober 1939 über Antwerpen nach New York geflüchtet und lebte nun im Stadtteil Washington Heights.

Mit der Bürgschaft des Bruders und dem Restgeld des Hausverkaufs konnte Moritz Schwalm am 03. April 1941 nach Hamburg reisen und die Einwanderungsvisa der USA für seine Familie in Empfang nehmen. Die Kosten für die Schiffspassage und die Bahnfahrt nach Barcelona wurden durch das JDC- Deposit, das Levi Schwalm eingezahlt hatte, gedeckt. Moritz Schwalm erreichte New York mit seiner Familie am 20. August 1941 und fand in Manhattan eine vorläufige Unterkunft. Mit Hilfe seines Bruders bekam er eine Stelle als Maler in der Firma Rubinstein Brothers. Nach der üblichen Frist von fünf Jahren stellte Moritz Schwalm, der seinen Namen in Morris geändert hatte, bei den New Yorker Behörden einen Antrag auf Einbürgerung für sich und seine Familie.

Auch Rosenbaums aus Rosdorf emigrierten über Barcelona

Aus Göttingen flüchtete, zur selben Zeit wie Familie Schwalm, das aus dem benachbarten Rosdorf stammende Ehepaar Rosenbaum. Dort war Alfred Rosenbaum 1880 zur Welt gekommen. Von 1920 bis 1938 führte er das von seinem Vater gegründete Manufakturwarengeschäft „Julius Rosenbaum". Ehefrau Bertha half im Betrieb aus. Beide waren im Ort als „ordentliche und korrekte Geschäftsleute angesehen und erfreuten sich allgemeiner Beliebtheit".3 Auch in den umliegenden Dörfern handelte Alfred Rosenbaum mit Textilien. Der mobile Handel ermöglichte es dem Kaufmann, die negativen Folgen des Boykotts für längere Zeit abzufedern. Darüber hinaus besaß er neben dem Familienbesitz in Rosdorf noch ein Geschäftshaus in der Göttinger Innenstadt. Spätestens 1938 geriet der erfolgreiche und beliebte Kaufmann daher ins Visier der NSDAP. Man entzog ihm die Legitimationskarte für den Textilhandel und damit seine Existenzgrundlage. In der Pogromnacht wurde das Ehepaar schließlich in Rosdorf von SA-Männern misshandelt und gedemütigt.4 Die Gestapo verhaftete Alfred Rosenbaum und verschleppte ihn ins Gerichtsgefängnis Reinhausen. Nach seiner Freilassung versuchte er, bei Selmar Müller in Göttingen in der Weender Landstraße unterzutauchen. Zeugen beschrieben ihn, der kaum noch das Haus verließ, als ängstlich und eingeschüchtert. Die Flucht des Ehepaares Rosenbaum wurde von Sohn Kurt organisiert, der als 15-Jähriger 1937 in die USA emigriert war. Kurt Rosenbaum hatte für das notwendige Affidavit und die Einzahlung auf das Deposit-Konto bei der JDC gesorgt.

Auch das Ehepaar Rosenbaum reiste Ende Juli 1941 mit dem Zug nach Barcelona, um am 01. August auf der Ciudad de Sevilla einzuchecken. Für die Durchreise benötigten Alfred und Bertha Rosenbaum ein spanisches Transitvisum, das wiederum nur bei Vorlage eines gültigen Reisepasses ausgestellt wurde. Die deutschen Behörden gaben aber keine Reisepässe an Juden und Jüdinnen mehr aus bzw. verlängerten die abgelaufenen Dokumente nicht. So erhielt das Ehepaar Sonderdokumente mit einem großen J-Stempel, die nur für die Emigration gültig und befristet waren. Bei Vorlage dieser Ersatzpässe stempelte das spanische Konsulat dann die Transitvermerke ein. Rosenbaums konnten nur zwei Handkoffer mit Kleidung und 10 RM an Reisegeld mit nach Barcelona nehmen, mehr war nicht gestattet. Ihr Umzugsgut hatten sie bei der Firma Hannoversches Fuhrwesen aufgegeben, verpackt in neun Kisten. Dafür hatten sie bei der DeGo-Bank in Berlin 1.000 RM einzahlen müssen. Die Lifts sollten ebenfalls nach Spanien und dann in die USA transportiert werden. Sie kamen dort nie an.

Rosenbaums ließen sich in Baltimore nieder

Nach drei Wochen trafen Alfred und Bertha Rosenbaum in New York ein, sie reisten sofort weiter nach Baltimore zu ihrem Sohn Kurt. Der 61-jährige Alfred Rosenbaum fand sogar relativ schnell eine Arbeitsstelle, wie die meisten anderen Immigrantinnen und Immigranten musste er sich aber vorläufig mit Hilfsarbeiten begnügen. 1942 wurde er in der Old Men Registration erfasst, in der sich alle Männer der Jahrgänge von 1877 bis 1897 durch die US-Army registrieren lassen mussten. Nach dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 stellte das Militär damit eine letzte Reserve auf, die Erfassten wurden aber nicht mehr zum aktiven Dienst eingezogen.

Auch der Schuhmacher Jacob Faibuschewitz aus Göttingen schaffte noch 1941 die Flucht über die Iberische Halbinsel. In der Universitätsstadt hatte er in den 1920er Jahren die Schuhklinik gegründet.5 Der orthopädische Betrieb belieferte u.a. das Universitätsklinikum und verfügte daher über eine gesicherte Umsatzquelle. Schon 1934 drängten die Nationalsozialisten die Universität, die Zusammenarbeit mit dem "Ostjuden" aufzugeben. Jacob Faibuschewitz konnte sich noch bis 1938 auf seine Stammkundschaft verlassen, dann musste er die Einrichtung der Werkstatt fast komplett verkaufen. Er reparierte nur noch gelegentlich Schuhe für Bekannte und Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Bis in die Kriegszeit hinein "überlebte" der nahezu arbeitslose Schuhmacher-Meister auf diese Weise. Schließlich schaffte es sein Sohn Alfred, der 1937 in die USA ausgewandert war,6 die benötigten Mittel für die Schiffspassage in New York bei der JDC zu hinterlegen. Über das Oregon Emergency Committee, einer in Portland ansässigen Hilfsorganisation, zahlte er am 18. August 1941 auf ein Auswandererdepot der JDC 365 $ ein. Schon zwei Tage später konnte sein Vater Jacob, der zuvor mit der Bahn von Berlin in die portugiesische Hauptsstadt Lissabon gekommen war, den Dampfer Mouzinho besteigen und sich in die USA retten.


Fußnoten

  1. Vgl. Patrik von zur Mühlen: Fluchtweg Spanien-Portugal. Die deutsche Emigration und der Exodus aus Europa 1933-1945, Bonn 1992, S. 150 ff.
  2. Angaben zur Familie Schwalm: NLA-HStAH, Nds. 110 W Acc. 14/99 Nr. 106012 - Entschädigungsakte Sally Schwalm nach Moritz Schwalm.
  3. Angaben zu Alfred und Bertha Rosenbaum: NLA-HStAH, Nds. 110 W Acc. 14/99 Nr. 105023, Entschädigungsakte Alfred Rosenbaum.
  4. Vgl. Klaus Groth: Chronik der Gemeinde Rosdorf und ihrer Ortschaften (Bd. 2). Von 1933 bis zur Gegenwart, Gudensberg-Gleichen 1988.
  5. Vgl. Bruns-Wüstefeld, Lohnende Geschäfte, S. 202-204.
  6. Zu Alfred Faibuschewitz siehe Unterseite "Angestellte und Auszubildende".

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